MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 31.03.08

Krebsstation Deutschland

In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar starb in Deutschland ein Mensch zu Hause qualvoll an Lungenkrebs. Seine beiden Töchter, Martina, 8 Jahre alt, und Elisabeth, 6 Jahre alt, mußten hilflos zuschauen. Wir schreiben das Jahr 2008 - nicht 1908.

Im Januar 2007 erregte der Fall Kevin die öffentliche Aufmerksamkeit, weil zu Tage kam, daß der Tod des zweijährigen Kevin durch den in Deutschland praktizierten Sozialabbau und die systematische Überlastung der Ämter mitverursacht wurde.

Kevin war im Oktober 2006 tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Ziehvaters gefunden worden. Der Junge war vermutlich schon Ende April oder Anfang Mai an den Folgen schwerster Mißhandlungen gestorben, obwohl er unter der Obhut des Bremer Jugendamtes stand.

Danach wurde über Monate hin in hoher Frequenz über ähnliche Fälle in den Mainstream-Medien berichtet, bei denen Kinder unter skandalösen sozialen Bedingungen in Deutschland zu Tode gekommen sind. Geändert hat sich dennoch nichts. Außer: Anscheinend wurde ein großer Teil des Publikums der penetranten Berichterstattung überdrüssig und die Scheinwerfer der großen Medien suchten sich mittlerweile neue Sensationen.

Im April 2007 verhungerte ein Arbeitsloser in der Domstadt Speyer. Ebenfalls stellte sich heraus, daß die Ämter versagt hatte. Der 'stern' berichtete am 19. April über die "tödliche Logik" von Hartz IV.

Hartz IV wurde nicht zurückgenommen, sondern im Gegenteil durch eine Folge ergänzender Maßnahmen weiter und weiter verschärft. Der Druck auf die Menschen wird erhöht, die Hilfe immer weiter zurückgefahren.

Wie nun der 'spiegel' (Nr. 13 v. 22. März 2008) berichtet, mußten in Dortmund zwei 8 und 6 Jahre alte Mädchen monatelang ohne Hilfe allein mit ihrem schwer kranken Vater in einer total verdreckten und vermüllten Wohnung leben und dabei zusehen, wie dieser an Lungenkrebs im Endstadium zugrunde ging.

Abgespielt hat sich dies in Dortmund-Mengede, in einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung. Das rund hundert Jahre alte Haus in der Hansemannstraße 16, einst gebaut für Kumpel der Zeche Adolph von Hansemann, wird noch mit Kohleöfen beheizt, die Toiletten befinden sich im Treppenhaus, Badezimmer gibt es nicht. Die oberen Stockwerke stehen leer, mehrere Fenster sind zugemauert, die Fassade ist mit riesigen Graffiti beschmiert.

Im Oktober 2006 haben die Kinder bereits ihre Mutter verloren. Sie hatte Darmkrebs und starb bei einer Notoperation.

Der Vater, 66 Jahre alt, versucht die Töchter allein zu erziehen und den Haushalt in Ordnung zu halten. Obwohl er in Anbetracht seiner bisherigen Lebensumstände als schwieriger Mensch beschrieben wird, klappt dies eine ganze Zeit lang relativ gut.

Doch im Januar 2007 kommt Martina so häufig ungewaschen und mit schmutzigen Kleidern zum Unterricht, daß die Schulleiterin den Jugendhilfedienst in Dortmund-Mengede alarmiert. Die Behörde schickt eine Familienhelferin in die Hansemannstraße.

Die Sozialarbeiterin, an gröbste Vernachlässigung Jugendlicher gewöhnt, findet die Zustände bei der Familie N. nicht so schlimm. Der Vater halte alle Absprachen ein, meldet sie ans Jugendamt. Er bringe die Kinder regelmäßig zum Arzt, begleite sie sogar zum Spielplatz, sorge dafür, daß immer genug zu essen da sei. "Pflege und Betreuung sind sichergestellt", folgert daraus das Amt, stellt die erst im April begonnene Hilfe schon im August 2007 wieder ein - im Nachhinein ein schwerwiegender Fehler.

Denn mit Vater Robert N. geht es ab Spätsommer erkennbar bergab. Er hat kaum noch Zähne, kann nicht mehr kauen. Der starke Raucher hustet oft stundenlang, bewegt sich nur noch mühsam. Schafft es immer seltener, sich morgens anzuziehen, packt es meist nur noch aufs Sofa im Wohnzimmer. Bleibt dort den ganzen Tag liegen.

Die Kinder sind mehr und mehr auf sich allein gestellt, nur der 40-jährige Halbbruder Frank N. aus der ersten Ehe ihres Vaters schaut manchmal vorbei. Im Supermarkt kaufen die Schwestern massenweise Tiefkühlpizza, Chips und Süßigkeiten, aus dem nahe gelegenen Getränkemarkt schleppen sie Cola und Fruchtsäfte nach Hause. Manchmal, wenn die Tüten zu schwer sind, bittet Martina Erwachsene, ihnen doch bitte beim Tragen zu helfen.

In der Kinderboutique Ernsting's family staunt die Verkäuferin über die zwei kleinen Mädchen, die mal einen Schal, mal ein T-Shirt mitnehmen, manchmal mit einem 50-Euro-Schein bezahlen. "Sie kamen immer allein", erinnert sich Eike Holzapfel, "die Größere hat auf die Kleine aufgepaßt."

Martina übernimmt für ihre jüngere Schwester die Mutterrolle. Die Achtjährige assistiert der Sechsjährigen beim Anziehen, bringt Elisabeth zur Schule, hilft der Erstklässlerin, die sich mit dem Abc schwertut, bei den Hausaufgaben. Martina selbst ist eine prima Schülerin, schreibt die besten Aufsätze, wird sogar Zweite bei einem Vorlesewettbewerb. Doch als sich die Situation zu Hause zuspitzt, sackt auch sie immer mehr ab.

In der Wohnung, schon seit Monaten nicht mehr geputzt, stapeln sich schmutziges Geschirr und Müll. Überall liegen Essensreste herum, im Kinderzimmer, im Wohnzimmer, in den Betten. Es stinkt. Weil niemand mehr wäscht, ziehen die Mädchen wochenlang die gleichen Klamotten an.

Ende Dezember muß Vater Robert N. ins Krankenhaus, sein Zustand hat sich weiter verschlechtert. Lungenkrebs im Endstadium, stellen die Mediziner fest. Inoperabel. Unheilbar.

Als hoffnungsloser Fall wird der Mann Anfang Januar entlassen. Auch die Kinder, vorübergehend bei ihrem Halbbruder untergebracht, kommen zurück ins Mengeder Bergarbeiterhaus, zurück zum sterbenskranken Vater.

"Ich hab keine Zeit mehr für Hausaufgaben", erklärt Martina ihrer Klassenlehrerin kurz darauf, "ich muß den Papa pflegen, einkaufen und kochen." Die Pädagogin, entsetzt über den verwahrlosten Zustand der Schülerin, die schlecht riecht und total verfilzte Haare hat, informiert ihre Schulleiterin. Die wird erneut beim Jugendhilfsdienst vorstellig, bittet dringend um Hilfe. Doch die Mitarbeiter dort sind überrascht.

Was denn nun schon wieder los sei? Bei der Familie sei doch noch vor kurzem alles okay gewesen. Und der Vater, nach dem Klinikaufenthalt telefonisch befragt, ob er Hilfe brauche, habe dies vor ein paar Tagen ausdrücklich verneint. Außerdem befinde sich die Sachbearbeiterin gerade im Urlaub, und deren Kollegen seien total im Stress.

In der Tat haben sieben von acht Fachkräften des Jugendhilfedienstes Mengede Anfang 2008 sogenannte Überlastungsanzeigen geschrieben, den akuten Personalmangel ihres Amtes gebrandmarkt, "mangelhafte Betreuung der Schutzbefohlenen" eingeräumt. Gewerkschaftssekretär Martin Steinmetz von Ver.di unterstützt gegenüber den Dortmunder "Ruhr-Nachrichten" den Hilferuf: "Die Beschäftigten arbeiten unter miserablen Umständen und auf Kosten ihrer Gesundheit."

Auf Anzeichen akuter Überlastung prallt Martinas Lehrerin auch bei ihrem letzten Vorstoß am Donnerstag, den 17. Januar. Obwohl die Wohnung der Kinder nur rund 600 Meter vom Amt entfernt liegt, zu Fuß in vier Minuten erreichbar ist, wird ein Hausbesuch strikt abgelehnt. Über das Telefonat mit der Vertreterin der Sachbearbeiterin hat die Pädagogin ein handschriftliches Protokoll verfaßt. Auszug:

Lehrerin: "Martina und Elisabeth sind in einem verheerenden Zustand."

Vertreterin: "Das ist doch normal, wenn der Vater krank ist."

Lehrerin: "Der ist nicht krank, der stirbt vor den Augen seiner Kinder."

Vertreterin: "Was möchten Sie denn, daß ich tue?"

Lehrerin: "Ich erwarte, daß Sie hingehen und nachsehen."

Vertreterin: "Sie kennen ja unsere Personalsituation."

Lehrerin: "Und was schlagen Sie vor?"

Vertreterin: "Am Dienstag kommt die zuständige Sachbearbeiterin wieder."

In der Nacht zum 20. Januar kriegt Robert N. plötzlich keine Luft mehr. Keucht, röchelt, bekommt Schaum vor den Mund. Macht den Töchtern verzweifelte Handzeichen. Martina versucht, den Halbbruder anzurufen, immer wieder. Doch der hat sein Handy ausgeschaltet.

Als der Vater sich nicht mehr rührt, auf Rufe und Schütteln nicht reagiert, schalten die Schwestern den Fernseher an, gucken stundenlang. Dann spielen sie Mensch-ärgere-dich-nicht bis zum Morgengrauen, schlafen können sie nicht. Gegen 9.30 Uhr erreichen sie endlich den Halbbruder. "Ich glaube, der Papa ist tot", eröffnet ihm Martina.

* * *

Manchmal, nach dem Aufstehen, wirkt Martina abwesend und bedrückt. Das Mädchen mit den hellblonden Haaren, sonst meist lebhaft, zieht sich dann schweigend an, mag nichts frühstücken, antwortet nicht auf Fragen. Sagt nur einen Satz: "Ich hab wieder von Papas Tod geträumt."

Inzwischen ist der Fall zum Politikum geworden, inklusive der üblichen Reflexe: Schuldzuweisungen, Rechtfertigungen, Verteidigungsstrategien. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die seelische Tortur von Martina und Elisabeth, was aus ihnen wird, wo sie künftig leben sollen, gemeinsam oder getrennt, das gerät dabei mehr und mehr in den Hintergrund.

Von Schuld, von Verantwortung will danach niemand etwas wissen. Vorwürfe, sein Amt hätte früher eingreifen, den Kindern unbedingt die traumatische Erfahrung ersparen müssen, wehrt der Dortmunder Jugendamtsleiter Ulrich Bösebeck ab. "Für die Mitarbeiter war nicht erkennbar, wie ernst die Krankheit des Vaters war", behauptet er. Und in einer Stellungnahme seiner Behörde steht, der "plötzliche Tod des Vaters" sei "nicht absehbar" gewesen, es habe "kein Hinweis auf sofortiges Handeln" vorgelegen.

Im Dortmunder Rathaus, wo eine rotgrüne Koalition regiert, führte das Kinderschicksal zu parteipolitischem Zoff. Während die CDU-Fraktion das "Nichthandeln des Jugendamtes" anprangert, wiegeln die Koalitionspartner ab. "Verschmutzte Kleidung ist noch kein Hinweis auf Kindeswohlgefährdung", beschwichtigt etwa der Grünen-Abgeordnete Wolfram Frebel. Und Dortmunds sozialdemokratischer Oberbürgermeister Gerd Langemeyer entwickelt eine eigene Sichtweise des Falls. "Die Alternative wäre doch gewesen", erklärt er, "dem todkranken Vater seine Kinder wegzunehmen."

Die Dortmunder Staatsanwaltschaft prüft jetzt, ob nicht genau das zwingend erforderlich gewesen wäre. Bei Ermittlungen wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht und wegen fahrlässiger Körperverletzung soll laut Oberstaatsanwältin Ina Holznagel penibel rekonstruiert werden, "wer mit wem wann telefoniert hat und ob sich daraus ein konkreter Verdacht gegen bestimmte Mitarbeiter des Jugendamtes ergibt".

Martina und Elisabeth sind derweil notdürftig in der Familie eines Klassenkameraden von Martina untergekommen. Doch diese Familie hat bereits zwei eigene Kinder, die Eltern sind beide berufstätig und können und wollen nicht auf Dauer zwei weitere Kinder versorgen. Ihr Vorschlag, nur Martina aufzunehmen, hat wenig Chancen: Die Schwestern, die kurz hintereinander Mutter und Vater verloren, sollen nicht getrennt werden.

Das Jugendamt sucht deshalb, so formuliert es eine Sprecherin, "professionelle, liebevolle Hände" - Pflegeeltern, die Martina und Elisabeth gemeinsam aufnehmen. Bisher haben sich drei Interessenten gemeldet. Martina und Elisabeth mochten sich bisher noch nicht festlegen. Auf ihr Votum kommt es aber auch nicht an: Kinder haben zwar, wie es im Juristendeutsch heißt, ein Anhörungsrecht, aber kein Aufenthaltsbestimmungsrecht.

Sie dürfen zwar etwas sagen. Entschieden wird jedoch von anderen.

Entschieden wird auch weiterhin über Verschärfungen von Hartz IV und weiteren Sozialabbau.

Deutschland ist krank. Dieses Land ist von einem Geschwür befallen, das sich immer mehr ausbreitet. Es ist das Krebsgeschwür des Anti-Sozialen.

 

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