MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 30.10.06

Sozialabbau und Arbeitsplatzabbau

Zur Diskussion steht die Frage, ob der Zuwachs an Produktivität und die Abnahme der benötigten Arbeit entkoppelt werden kann.

Meine Antwort ist ein ganz klares Nein.
Und ich möchte das zunächst begründen, bevor ich im zweiten Teil zu einem Thema komme, das ganz eng damit zusammenhängt: Die Zukunft der Arbeit.

Eigentlich liegen die Fakten heute unverstellt vor uns. Und ich frage mich, warum ausgerechnet wir begründen müssen, warum die Arbeit, und ich meine hier zunächst einmal die Erwerbsarbeit, notwendiger Weise nach und nach weiter schrumpfen wird. Und nicht umgekehrt die Gegenseite, die Jahr für gebetsmühlenartig wiederholt, daß nur das Wachstum genügend gesteigert werden müsse, um die Arbeitslosigkeit abbauen zu können. Immer weniger Menschen glauben diesen Schmuh. Aber es genügt nicht, zu erkennen, daß es nicht funktioniert - viel wichtiger ist, zu erkennen, warum es nicht funktionieren kann.

Es ist heute kaum mehr umstritten, daß die Produktivität im Laufe der vergangenen zweihundert Jahre - und in den vergangenen Jahrzehnten in immer höherem Tempo - gesteigert werden konnte. Das ist - bei allen unverkennbaren negativen Nebenwirkungen - eine durchaus positive Sache.

Allein im Jahrzehnt von 1990 bis 2000 stieg die Produktivität pro ArbeitnehmerIn um rund 74 Prozent. Dies bedeutet andersherum betrachtet, daß beispielsweise dort, wo 1990 noch 100 Menschen in der Autoproduktion beschäftigt waren im Jahr 2000 nur noch 56 Menschen für dieselbe Anzahl Autos benötigt wurden. Oder anders betrachtet: Was dieselbe Anzahl Menschen noch 1990 in 100 Stunden produziert haben können sie zehn Jahre später in 56 Stunden produzieren.

Mit dem Schlagwort Globalisierung ist auch die - übrigens gar nicht so neue - Erkenntnis des globalen Waren- und Dienstleistungsmarktes verbunden. Zu dieser Erkenntnis gehört allerdings auch hinzu, daß wir Menschen realisieren, daß dieser Globus - die Erdkugel - begrenzt ist. Es besteht nun mal nicht die Möglichkeit, die Marsbewohner oder die Venusbewohnerinnen mit Autos zu beliefern. Und diese Begrenztheit hat auch positive Aspekte: Es ist zwar noch immer kaum bekannt, aber eine unbestreitbare Tatsache, daß global längst genügend Nahrungsmittel produziert werden, um alle Menschen ernähren zu können. Der World Food Report der Welternährungsorganisation (FAO) zeigt auf, daß die Welt-Landwirtschaft in ihrem heutigen Entwicklungsstadium ohne Problem zwölf Milliarden - also das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung - ernähren könnte (das heißt: 2.700 Kalorien pro Individuum pro Tag). Die Produktivität weiter zu steigern ist in diesem Bereich nur noch interessant, um die Profite weiter zu steigern - jedoch nicht, um das menschliche Grundbedürfnis, zu essen, befriedigen zu können.

Diese Erkenntnis macht es allerdings um so bitterer, realisieren zu müssen, daß auf dieser Erde nach wie vor alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren verhungert. UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler meinte hierzu vor dem Hintergrund des World Food Report, das sei Mord. Der Kapitalismus ist eine mörderische Weltordnung.

Dennoch zeigt dieses Beispiel: Unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit - nicht unter dem der Gier, die ihrer Natur nach unersättlich ist - erreicht die Menschheit soeben die rationale Grenze der Produktivität. Wir haben - um einen Marxschen Begriff zu verwenden - die Grenze zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit erreicht. Doch um keine falschen - im schlechtesten Sinne utopischen Vorstellungen aufkommen zu lassen: Das Reich der Notwendigkeit kann zwar minimiert, aber niemals völlig auf Null gebracht werden. Arbeit wird immer nötig sein - und das ist auch gut so. Darauf komme ich im zweiten Teil zu sprechen.

Um nochmals auf Marx zurückzukommen: Er hat das Gesetz von der sinkenden Profitrate entdeckt. Was er jedoch in der vor hundertfünfzig Jahren begrenzten Sichtweise des nationalökonomischen Denkens übersah: Durch Ausweitung der Absatzmärkte über die nationalen Grenzen hinweg - da beginnt dann das Feld der Imperialismus-Theorien - kann das relative Absinken des Profits aufgefangen werden. Ein Beispiel: Wenn DaimlerChrysler pro Auto statt 1000 Euro nur noch 900 Euro Profit machst, steigt dennoch der Profit, wenn DaimlerChrysler den Output entsprechend steigern kann: Die "Schallmauer" wird hier bereits bei einer Steigerung um 11 Prozent erreicht - wie hoffentlich alle hier noch leicht nachrechnen können. Bei einer Verdoppelung des Output - also Steigerung um 100 Prozent - steigt der Profit immerhin noch um 80 Prozent.

Genau dieser Zusammenhang erzwingt eine Verschärfung der globalen Konkurrenz, da die Unternehmen im Kapitalismus unentrinnbar dem Zwang zur Profitmaximierung unterworfen sind. Das liegt nicht am "bösen Finanzkapital" wie in letzter Zeit immer häufiger zu hören ist. Das Kapital tritt uns lediglich in verschiedenen Erscheinungsformen entgegen und ist zudem mehr und mehr miteinander verflochten. Die Politik, die seit drei Jahrzehnten zunehmend ihre Gestaltungsfähigkeit eingebüßt hat, kann dem - selbst wenn wir hier mal idealistisch den Willen voraussetzen würden - gar nicht mehr gegensteuern. Ob mit Tobinsteuer oder welchen Wundermittelchen auch immer!

Ebenso wie mit Hilfe der Ausweitung der Produktionskapazität bei gleichzeitiger Ausweitung des Absatzmarktes der Rückgang des relativen Profits kompensiert werden kann, könnte nun - theoretisch - bei einer Vervielfachung der Produktion auch der Rückgang der benötigten Arbeit kompensiert werden. Dies ist jedoch - wenn wir einmal den Bereich künstlich geschaffener Bedürfnisse beiseite lassen - in beiden Fällen nur bei einer Ausweitung des Absatzmarktes möglich. Da der globale Markt aber begrenzt ist und nicht erweitert werden kann, ist eine Erweiterung des Absatzmarktes für einzelne Unternehmen nur möglich, wenn sie anderen Unternehmen Marktanteile abjagen.

Diese Gesetzmäßigkeit beschleunigt stetig - genauer: in zunehmendem Maße - die Verschärfung der globalen Konkurrenz, den Konzentrationsprozeß und letztlich die Entstehung von Monopolen. Ist in allen Bereichen aber - so wie heute bereits im Bereich der Nahrungsmittelproduktion - die Aufnahmegrenze des Marktes erreicht, läßt sich - Mars und Venus helfen dem Kapitalismus nicht - global keine Absatzsteigerung mehr realisieren. Und damit ist für die Profitsteigerung - ebenso wie für die Menge der insgesamt benötigten Arbeitszeit - die absolute, dh. globale Obergrenze erreicht.

Es ist unbestreitbar ein inhumaner Zustand, daß der arbeitende Teil der Bevölkerung in der Regel bereits über 38, über 40 Stunden pro Woche arbeiten muß, während real über 7,7 Millionen Menschen in Deutschland "arbeitslos" sind. Solange der Kapitalismus besteht, wäre eine Beendigung dieses Zustands nur durch eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich - zunächst mal der Einstieg in die 35-Stunden-Woche - denkbar. Eine unabdingbare Voraussetzung hierfür ist eine Stärkung und Demokratisierung der Gewerkschaften.

Nun zum zweiten Teil: Lohnt es sich überhaupt für Arbeit zu kämpfen? Oder ist es nicht so - wie beispielsweise Götz Werner, der Chef der dm-Drogeriemarkt-Kette und Multimillionär erklärt - sinnvoll oder gar human, wenn immer weniger Arbeit nötig ist?

Was ist überhaupt Arbeit? Ist es beispielsweise Arbeit, wenn ein Beamter am Wochenende als Hobby in seiner mit Drehbank ausgestatteten Werkstatt Möbel herstellt? Ist es nur dann Arbeit, wenn er die hergestellten Möbel verkauft oder bereits dann, wenn er sie verschenkt?

Laut Marx ist Arbeit die Assimilation - im heutigen Sprachgebrauch wäre der am ehesten entsprechende Begriff: Stoffwechsel - des Menschen mit der Natur. Ist zur Unterscheidung zwischen "echter Arbeit" und Hobby die NOTWENDIGKEIT das entscheidende Kriterium?

In einem gewissen Sinne: ja. Denn die Notwendigkeit besteht zunächst mal in einem ganz existentiellen Sinne darin: Ernährung, ein Dach über dem Kopf, Heizung, Bekleidung u.s.w.. Sie besteht jedoch auch in der Befriedigung kultureller Bedürfnisse. Menschen haben schließlich nicht nur einen Magen, sondern auch ein Hirn.

Vielfach wird ja völlig falsch dargestellt, daß der Beginn der arbeitsteiligen Gesellschaft - also in der Zeit der ersten sogenannten Hochkulturen, der ägyptischen oder summerischen - in der existentiellen Notwendigkeit bestanden hätte. Doch wer sich mit diesem Abschnitt der Menschheitsgeschicht ein bißchen näher befaßt, wird feststellen, daß die Entstehung arbeitsteiliger Gesellschaften eng mit der Herausbildung von Hierarchien und mit der Entstehung einer aristokratischen Herrscherklasse zusammenhängt. Sehr empfehlenswert ist beispielsweise das Buch des US-amerikanischen Historikers Lewis Mumford 'Der Mythos der Maschine'.

Erst als es gelang, die Ernährung von drei Gruppen, einem Heer von abhängigen Erntearbeitern, einem Heer von Aufsehern - der Vorstufe der heutigen Polizei - , und einem Heer von Soldaten zur Abwehr der Interessen konkurrierender Stadtstaaten oder deren Eroberung, zu gewährleisten, konnten sich die Herrscher eine gewisse Freizeit und Muße gönnen, konnten sich Literatur und Poesie, Mathematik und Astronomie - damals noch verwoben mit Astrologie - und viele andere Formen menschlicher Kultur entwickeln. Ich will damit nicht die Kultur von sogenannten primitiven Völkern wie der australischen Aborigines oder der südafrikanischen !Kung herabwürdigen - aber ich würde ungern auf die Nutzung einer kulturellen Errungenschaft wie beispielsweise der Freiburger Uni-Bibliothek verzichten.

Wenn wir heute in Europa - nur vom Prinzip her, wohlgemerkt - einen höheren Lebensstandard haben als selbst vor 3000 Jahren Könige und Pharaonen, nicht mehr von Hungerkatastrophen oder Epidemien bedroht sind, dann haben wir - auch in Deutschland - das den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts zu verdanken, die die Klassenschranken zwischen Adel und Bürgertum eingerissen haben. Sicherlich: Zunächst entstand in der Anfangszeit des Kapitalismus eine neue Aufspaltung in Klassen: die des Proletariats und die der Kapitaleigner. Doch diese Spaltung nivellierte sich mit dem Erfolg des Kapitalismus bis zum Höhepunkt der Entwicklung in den 1970er Jahren mit der Herausbildung etlicher Mittelstandsschichten und einem mehr oder weniger stufenlosen Übergang zwischen Unterschicht und Oberschicht. In den vergangenen drei Jahrzehnten jedoch beschleunigt sich in allen Industrienationen eine erneute und immer extremere Aufspaltung der Gesellschaft in Oben und Unten.

Diese Entwicklung vor Augen wird deutliche, daß der Mensch im Kapitalismus - und bereits seit Beginn der arbeitsteiligen Gesellschaft - gezwungen ist, zu arbeiten, um einigermaßen menschenwürdig leben zu können. Dieser Zwang zur Arbeit, der Charakter der Erwerbsarbeit als Zwangsarbeit, konnte lediglich in den Schönwetterperioden verschleiert werden. Über Generationen hinweg wurde den Menschen eingetrichtert, welche Erfüllung Arbeit doch sei. So ist es nicht verwunderlich, daß auch heute noch eine Mehrheit in Umfragen bestätigt, daß ihnen ihre Arbeit Spaß mache. Spätestens nach Freud wissen wir jedoch, daß das Unbewußte eine deutliche Sprache spricht und in Redewendungen wie "seine Arbeit erledigen" das wahre Verhältnis der Menschen zur Erwerbsarbeit zutage kommt. Das Phänomen Hobby zeigt zudem, daß das Verlangen nach nicht-entfremdeter Arbeit nicht auszurotten ist.

In diesem Zusammenhang wird nun auch klar, daß Sozialhilfe oder ALG II nicht gewährt werden, damit das Grundgesetz erfüllt werde und der Artikel von der Menschenwürde mehr Gewicht habe als das Recht auf Asyl. Es geht nicht darum, daß die Bürger Deutschlands menschenwürdig leben können - sondern, um die auf Sozialhilfe oder ALG II angewiesenen Menschen ein wenig - oder: inzwischen mehr und mehr - unter dieses Niveau drücken zu können, um sie als Reservearmee für den immer engeren Arbeitsmarkt gefügig zu halten.

Wer nicht allein von Luft und christlicher Nächstenliebe leben will, muß jede Schmutz- und Sklavenarbeit und jede noch so absurde "Beschäftigungsmaßnahme" akzeptieren, um seine bedingungslose Arbeitsbereitschaft zu demonstrieren. Ob das, was du zu tun bekommst, auch nur im entferntesten einen Sinn hat oder schlicht absurd ist, spielt dabei keine Rolle. Nur in permanenter Bewegung sollst du bleiben, damit du niemals vergißt, nach welchem Gesetz sich deine Existenz zu vollziehen hat. Früher haben Menschen gearbeitet, um Geld zu verdienen. Heute scheut der Staat keine Kosten, damit Hunderttausende in absonderlichen "Trainingswerkstätten" oder "Beschäftigungsfirmen" die verschwundene Arbeit simulieren und sich fit für reguläre "Arbeitsplätze" machen, die sie nie erhalten werden. Immer neue und immer dümmere "Maßnahmen" werden erfunden, nur um den Schein zu wahren, daß die leerlaufende gesellschaftliche Tretmühle bis in alle Ewigkeit in Gang bleiben kann. Je sinnloser der Arbeitszwang wird, desto effektiver kann den Menschen so ins Hirn gehämmert werden, daß es kein Brötchen umsonst gibt.

Der Zwang zu arbeiten ist eben nicht nur - wie Marx es mit seiner Formulierung vom Reich der Notwendigkeit einerseits und dem der Freiheit andererseit im Auge hatte - ein durch die Naturnotwendigkeit, sich Essen, Energieträger, Kleidung beschaffen zu müssen, entstehender Zwang, sondern weit mehr: Es ist ein durch gesellschaftliche Machtverhältnisse aufrecht erhaltener Zwang.

"Jeder muß von seiner Arbeit leben können, heißt der aufgestellte Grundsatz. Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt, und es gibt kein solches Recht, wo die Bedingung nicht erfüllt worden."
(Johann Gottlieb Fichte, Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1797)

Bereits seit den frühen Hochkulturen galt der Satz: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Dieses meist unausgesprochene oberste Gebot hat sich im Laufe der Jahrtausende so eingeprägt, daß es auch von der Arbeiterbewegung gelegentlich unreflektiert übernommen wurde. Selbst heute wird vielen die inhumane und in der Konsequenz absurde Bedeutung dieses Satzes nicht bewußt: Alte, Kranke und Invalide sollen verhungern, Kinder - erst recht Babys - haben kein Recht auf Essen! Ein solches Denken ist den Aborigines oder den !Kung völlig fremd - wer Hunger hat, bekommt zu essen. Ob sie oder er sich an der Jagd oder dem Nahrungssammeln beteiligt hat, spielt keine Rolle. Und: Nur auf der inhumanen Grundlage dieses obersten Gebots "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" konnten sich die Hochkulturen entwickeln.

Selbstverständlich hätte sich vor 3000 Jahren kein freier Bauer bereit gefunden - außer in Zeiten einer Hungerkatastrophe - sich ins Heer der Erntearbeiter eines Pharao freiwillig einzureihen und einen Teil oder gar seine gesamte Ernte abzuliefern. Die Grundlage der Macht früher Stadtkönige bildete der Bau von Silos, in denen die Ernte, Getreide oder Reis, über Jahre hin gehortet werden konnte. Diese Nahrungsvorräte waren die erste Form von Geld: Beinahe beliebig teilbar und einsetzbar als Zwangsmittel, um Menschen als Erntearbeiter einsetzen und um Aufseher und Soldaten zu alimentieren (Nahrungsmittel heißt lateinisch alimenta).

Keine andere Rolle spielt das Geld bis heute. Gewiß hat das Geld eine Reihe weiterer Funktionen übernommen - doch nach wie vor ist der hauptsächliche Zweck des Geldes, Menschen zur Arbeit zu zwingen. Ohne Geld ist es in den Industriestaaten nahezu unmöglich, zu überleben. Immer wieder gab es Versuche, diesem Zwang zu entrinnen und mehr oder weniger autark zu leben, die zur Ernährung nötige Landwirtschaft selbst zu betreiben, was allein schon je nach Anspruch an Konsequenz äußerst mühsam ist, oder gar zudem Kleidung und andere existentiell nötige Produkte selbst herzustellen. Dies führte nicht selten dazu, daß Kommunen, in denen dieser Anspruch realisiert werden sollte, schlicht wegen Zeitmangels und geographischer Isolierung sich selbst entpolitisierten.

Obwohl diese Erkenntnis im Kapitalismus mit einem der letzten und stärksten Tabus belegt ist, führt kein Weg daran vorbei: Erwerbsarbeit ist Zwangsarbeit. Dies gilt also nicht nur für die Ein- oder Zwei-Euro-Jobs und in dem Sinne wie im Grundgesetz - also auf einem Stück Papier - Zwangsarbeit verboten ist: Nämlich Menschen zu Arbeit ohne Entgelt zu zwingen. Zu Zwangsarbeit wird jede Arbeit, zu der ein Mensch gezwungen ist, weil sie oder er andernfalls noch unwürdiger leben muß.

Im zwanzigsten Jahrhundert verschwand die brutale Art der kapitalistischen Ausbeutung wie sie noch im neunzehnten Jahrhundert in den industriellen Zentren üblich war. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, daß der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts ebenso wie der zuvor auf einem Prinzip basiert, das allen hierarchischen Gesellschaften zu Grunde liegt: die Benutzung des Menschen durch den Menschen.

Da die Erwerbsarbeit vertraglich geregelt ist, hat sich die soziale und politische Form der Ausbeutung geändert. Nicht geändert hat sich allerdings, daß jeder Erwerbstätige zum Zweck der Profitsteigerung benutzt wird. Dieses Benutzen hat grundsätzlich nichts damit zu tun, ob die Menschen auf grausame oder auf nicht grausame Weise behandelt werden, sondern es geht um die Tatsache, daß ein Mensch zu Zwecken dient, die nicht seine eigenen sind. Dabei geht es in der Konsequenz nicht einmal darum, ob ein Mensch einen anderen benutzt oder sich selbst. Das Entscheidende ist, daß ein Mensch kein Selbstzweck mehr ist, sondern daß er zum Mittel für die ökonomischen Interessen eines anderen oder auch für seine eigenen Interessen oder für die eines unpersönlichen Giganten, der Wirtschaftsmaschinerie, wird

Gegen diese Feststellung werden häufig folgende Einwände erhoben: Der eine lautet, daß es dem Menschen frei stehe, einen Arbeitsvertrag zu akzeptieren oder abzulehnen, und daß er daher ein freiwilliger Partner dieser sozialen Beziehung mit seinem "Arbeitgeber" und daher kein Ding sei. Aber dieser Einwand geht an der Tatsache vorbei, daß als Alternative nur das Leben im "sozialen Netz" bliebe, das eben aus diesem Grund entsprechend unattraktiv ausgestaltet wird.

Der andere Einwand lautet, daß das gesamte gesellschaftliche Leben, selbst in seiner "primitivsten" Form ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Kooperation und sogar an Disziplin erfordert und daß in der komplexeren Form der industriellen Produktion der Einzelne zweifellos ganz bestimmte notwendige und spezialisierte Funktionen zu erfüllen habe. Doch auch dieser Einwand übersieht dabei einen grundsätzlichen Unterschied: In einer Gesellschaft, in der niemand Macht über den anderen hat, erfüllt jeder seine Funktion auf der Grundlage der Kooperation und Gegenseitigkeit. Keiner kann einem anderen Befehle erteilen, insofern sich eine solche Beziehung lediglich auf Kooperation, auf Liebe, Freundschaft und natürliche Bindungen gründet.

Tatsächlich gibt es das ja auch - nach wie vor - in vielen Situationen in unserer heutigen Gesellschaft: Die Zusammenarbeit in einer Paarbeziehung wird weitgehend nicht mehr durch die Macht des Ehemanns über seine Frau bestimmt, der er Befehle erteilen kann, wie das in älteren Formen der patriarchalischen Gesellschaften der Fall war, sondern durch Gegenseitigkeit. Die Pflege älterer Angehöriger wird - wenn auch heute immer seltener - oft trotz finanzieller Einbußen und geringer gesellschaftlicher Anerkennung ohne Entlohnung freiwillig geleistet.

In seinem Frühwerk sprach Marx oft von Tätigkeit, wo er später den Begriff Arbeit verwendete. Er nannte auch die "Aufhebung der Arbeit" als Ziel des Sozialismus. Später, als er zwischen freier und entfremdeter Arbeit unterschied, formulierte er die Forderung nach der "Befreiung der Arbeit".

Klaus Schramm

 

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