MONTAGS-DEMO FREIBURG
Redebeitrag vom 21.08.06

Sozialabbau und Jugendarbeitslosigkeit
Klaus Schramm

 

Was hat Jugendarbeitslosigkeit mit Hartz IV zu tun?

Inzwischen ist das klammheimlich der mediengeprägten Vergeßlichkeit anheimgegeben worden!
Noch 2004 wurden von "Rot-Grün" große Töne gespuckt: Hartz IV diene auch dazu, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Wie sollte dies vonstatten gehen?
Als großartige Neuerung wurde den Jugendlichen folgendes verkauft:
Mit Hartz IV hätten sie erstmals ab dem 1. Januar 2005 ein "Recht auf Vermittlung"
Ja, vorher hatten die Versprechungen öfters noch geheißen: Ein Arbeitsplatz oder eine Lehrstelle für alle unter 25 Jahren. Ich komme nachher nochmals darauf zurück.
Manche meinten nun, ein "Recht auf Vermittlung" sei möglicherweise das gleiche. Da kannten sie unsere Politikerinnen und Politiker schlecht...

Weiter war eine der großartig angekündigten Neuerungen:
Der Betreungsschlüssel werde von 1 : 400 auf 1 : 75 verbessert. Also ein "Fallmanager" - wie es ab nun modisch hieß - sollte sich nur noch um 75 "Klientinnen" und "Klienten" kümmern.

Weiter wurde die Einstiegsqualifizierung für Jugendliche (EQJ) eingeführt. Wer kann sich noch an das Kürzel EQJ erinnern?
Die Haltbarkeitsdauer all der neuen Wortschöpfungen wird immer kürzer. Wer kann sich noch an die Sonderprogramme "Jugendteilzeit", an "Jump" und an "Jump plus" erinnern?

Was hat das alles genützt? Nichts.

Die Misere hat sich nicht verändert. 2004 zählte die Bundesagentur für Arbeit mehr als eine halbe Million junger Menschen ohne Arbeit. Inzwischen sind es de facto mehr. Allein in NRW gibt es über 100.000 arbeitslose Jugendliche.
Laut Bundesregierung liegt die Quote der Jugendarbeitslosigkeit bei 15 Prozent, laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bei 17 Prozent - also der Anteil der unter 25-Jährigen, die auf Stellensuche sind. Damit sind sie nahezu doppelt so stark von Erwerbslosigkeit betroffen wie die Gesamtbevölkerung. Unabhängig von diesen Daten-Diskrepanzen erklärt selbst das Statistische Bundesamt frank und frei: "Damit sind junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren nach wie vor deutlich häufiger von Erwerbslosigkeit betroffen als Angehörige anderer Altersgruppen." Im September wird die BA wieder bekannt geben müssen, wie viele Jugendliche auch dieses Jahr keine Lehrstelle bekommen haben.

Was sind die Ursachen der Misere?

Bei einer baden-württembergischen Umfrage unter 7000 Unternehmen kam folgendes zu Tage:
An erster Stelle war selbstverständlich das üblichen Lamento über die schlechte schulische Qualifikation von Lehrstellen-BewerberInnen zu hören. Aber dann wurde durchweg ganz offen geantwortet:
42 Prozent meinen, daß die unsichere wirtschaftliche Lage daran Schuld ist, daß zu wenige Ausbildungsplätze vorhanden sind. 29 Prozent wollen nicht mehr ausbilden, weil sie die Lehrlinge nicht übernehmen können.

Das altlinke Standard-Argument gegen die angeblich "schlechte wirtschaftliche Lage" ist der Verweis auf die boomende Export-Wirtschaft. Deutschland ist Weltmeister. Aber diese Analyse greift zu kurz und ist zu pauschal. Ich komme nachher nochmals darauf zurück.

Das zweite Argument der Unternehmen erhellt die Situation schon ein wenig:
Warum wird der "Bedarf" an Lehrlingen immer geringer?
Ganz einfach: Weil durch den Zuwachs an Produktivität mit immer weniger Arbeitskräften immer mehr produziert werden kann. Aber eine immer größere Menge an Waren läßt sich auch auf einem globalisierten Markt nicht mehr absetzen.

Dank steigender Produktivität hat beispielsweise in der Metallindustrie die Produktivität pro Beschäftigtem (nicht pro Arbeiter) von 1991 bis 2004 um 73 Prozent zugenommen. Ein Drittel der Arbeitsplätze wurde abgebaut. In absoluten Zahlen: Zwischen 1999 und 2005 wurden über 6 Millionen sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplätze abgebaut. Im äußerst wettbewerbsfähigen Maschinenbau, der 20 Prozent des Weltmarkts bedient, sank die Zahl der Beschäftigten seither sogar um über 40 Prozent. Von den insgesamt 46 Millionen erwerbsfähigen Deutschen zwischen 15 und 65 sind nur noch 23,5 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt - also rund die Hälfte.

Hier gibt es nur zwei mögliche Wege in die Zukunft:

A
Die gleichbleibende Menge an Waren wird durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt. Dabei steigen für die im internationalen Konkurrenzkampf übrig bleibenden Unternehmen die Profite.

B
Die weiterhin sinkende Gesamtmenge an nötiger Arbeit wird gerecht auf alle verteilt. Dies ist nur dann sozialverträglich möglich, wenn die Löhne und Gehälter bei geringerer Wochenarbeitszeit - 30, 20, 15 Wochenstunden - nicht sinken.

Und erst dann, wenn es wieder genügend Arbeitsplätze - Teilzeitarbeitsplätze - gibt, wird es wieder genügend Lehrstellen geben und nur so wird das Problem der Jugendarbeitslosigkeit gelöst.

Selbstverständlich ist niemand so blauäugig zu glauben, daß eine Politik verkürzter Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich von nationalen Regierungen oder nationalen Gewerkschaften durchgesetzt werden könnte. Dies ist erst durch einen wenigstens europaweit koordinierten sozialen Kampf durchsetzbar.

Auch die vieldiskutierte Ausbildungsplatzabgabe erscheint obsolet, wenn sie vor diesem Hintergrund betrachtet wird. Die großen Unternehmen und Konzerne, die im Export-Boom Umsatzsteigerungen von 30 und mehr Prozent pro Jahr verzeichnen, würden eine Ausbildungsabgabe aus der Portokasse bezahlen, ohne auch nur einen einzigen Ausbildungsplatz neu zu schaffen. Doch gerade den mittelständischen Unternehmen, die - zumindest in Baden-Württemberg noch immer die weit überwiegende Hauptlast der Ausbildung Jugendlicher im dualen System leisten, würden durch eine Ausbildungsplatz-Abgabe nichts geholfen. Es würde sogar - wie nicht selten bei bürokratischen Maßnahmen - gerade die falschen treffen.

Die Ausbildungsplatzabgabe wäre also bestenfalls Kosmetik. Doch selbst zu dieser Maßnahme konnte sich keine der bisherigen Bundesregierungen entschließen.

Die Hoffnungen in den neunziger Jahren, mehr Ältere in den Vorruhestand zu schicken und damit Platz für Jüngere zu schaffen, haben sich zerschlagen. Die frei gewordenen Stellen wurden aus Kostengründen eher gestrichen, als dem Nachwuchs eine Chance zu geben. Von Jugendteilzeit, einer Idee, die im Jahr 2002 propagiert wurde, spricht heute kaum noch jemand. Wie so viele arbeitsmarktpolitische Experimente verschwand auch dieses schnell im riesigen Instrumentenkasten der Arbeitsagenturen. Die Erfolglosigkeit von Sonderprogrammen wie Jump mußte schon die "rot-grüne" Regierung eingestehen: Die Teilnehmer an den milliardenteuren Hilfen kamen viel zu spät auf den ersten Arbeitsmarkt. Sie hatten damit häufig schlechtere Einstellungschancen als vorher. Nur ein Bruchteil schafft den Sprung in eine reguläre Beschäftigung - ob wegen oder trotz der Hilfen, ist schwer nachzuweisen. Der einzig nachweisbare Effekt war die damit verbundene Schönung der Arbeitslosen-Statistik.

Anfang 2003 versprach der neue Super-Minister Wolfgang Clement, dass kein Jugendlicher am Ende des Jahres ohne Ausbildung oder Arbeitsplatz dastehen werde. Am 1. Mai 2003 erklärte er auf der Maikundgebung in Recklinghausen angesichts zahlreicher protestierender Jugendlicher trotzig: "Jedem Jugendlichen unter 25 Jahren - auch denen, die jetzt hier protestieren - wird ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz angeboten."
Ende 2003 war die Situation so schlimm wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

1992, erhielten zwei Drittel aller Bewerber einen Ausbildungsplatz, heute nicht einmal jeder Zweite. Der Anteil der Betriebe, die noch ausbilden, ist von der niedrigen Quote von 29 Prozent Anfang der 90er Jahre auf 23 Prozent gesunken

Für eine wachsende Zahl von Jugendlichen bilden die verschiedenen Beschäftigungsförderprogramme den Eintritt in eine regelrechte "Maßnahmekarriere". Dies belegt beispielsweise auch die von der Bundesregierung herausgegebene Bilanz der Jump-Programme aus den vergangenen Jahren. Von Anfang 1999 bis Anfang 2003 wurden rund 514.000 Jugendliche gefördert. Die Zahl der begonnenen Maßnahmen liegt allerdings bei 613.000, weil einige Jugendliche allein im Rahmen von Jump mehrfach gefördert wurden.

Der von Regierung und Wirtschaft gefeierte "nationale Pakt für Ausbildung" ist und bleibt eine grandiose nationale Mogelpackung:

1. Weil es nicht um 30.000 sondern um 250.000 fehlende Ausbildungsplätze geht.
2. Weil alle Lehrstellenversprechen auch in der Vergangenheit nicht eingelöst wurden.
3. Weil der Pakt rechtlich völlig unverbindlich ist.

Der Verzicht der Regierung auf ein "Ausbildungsplatzgesetz" bedeutet:

Weiterer Zwangsausschluß vieler Jugendlicher von der Ausbildung und Fortdauer der verfassungswidrigen Lehrstellensituation.

Die rot-grüne Regierung hat sich dem angedrohten Ausbildungsboykott der Wirtschaftsverbände gebeugt und ihr halbherzig geplantes "Ausbildungsgesetz" wieder in der Schublade verschwinden lassen. Offensichtlich waren die Interessen der Unternehmer wichtiger als die Zukunft von Hunderttausenden von Jugendlichen.

Der Pakt setzte die Politik der leeren Versprechen fort. Er soll 30.000 "neue"(!) Lehrstellen schaffen. Doch ein viel weitreichenderes Lehrstellenversprechen gab es bereits 1999. Damals versprach das Bündnis für Arbeit (Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften) im sogenannten "Ausbildungskonsens":
"Jeder Jugendliche erhält einen Ausbildungsplatz seiner Wahl!"
Daraus wurde ein großer Flop: Jahr für Jahr ging die Zahl der Lehrstellen zurück. Im vergangenen Jahr gab es 85.100 betriebliche Lehrstellen weniger als noch 1999. Ein Minus von 15 Prozent. Diesmal verkünden Arbeitgebervertreter selbst, "daß insgesamt weniger Ausbildungsplätze rauskommen können". Denn von "zusätzlichen"(!) Lehrstellen ist nicht die Rede und "neue" sind nicht zwingend "mehr".

Nochmals in aller Deutlichkeit: Es geht nicht um "neue" oder "mehr", sondern um eine jederzeit "ausreichende" Zahl von Ausbildungsplätzen.

Die Arbeitgeber behaupten: Schuld für den Lehrstellenmangel sei die schlechte wirtschaftliche Lage, die Konjunktur. Genauso könnte man den Jugendlichen sagen, ihr seid eben zu einem ungünstigen Zeitpunkt geboren worden. Erbärmlicher kann sich eine Gesellschaft nicht vor der nachwachsenden Generation blamieren.

Niemand kommt auf die Idee - zumindest bisher nicht - , in einer wirtschaftlichen Krise Schulen zu schließen oder Schüler zu entlassen. Wie es ganz selbstverständlich eine Schulpflicht gibt, so muß auch die Berufsausbildung jederzeit gesetzlich garantiert sein.

Nun wird in letzter Zeit vermehrt über ein bedingungsloses Grundeinkommen - BGE - diskutiert. Auf den ersten Blick erscheint dies als eine Patentlösung auch für das Problem der Jugendarbeitslosigkeit. Häufig wird jedoch Grundeinkommen mit gesetzlichem Mindestlohn verwechselt.

Zum Thema Grundeinkommen und gesetzlicher Mindestlohn

Prof. Dr. Thomas Straubhaar wurde 2005 in einem Interview gefragt:
"Bereits heute ist ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung nicht in der Lage mitzuhalten. Kann es für sie sinnvolle Arbeit geben?"
Er antwortete: "Das geht wahrscheinlich nicht."

Ein Drittel - das sind 14 bis 15 Millionen Menschen. Für sie gibt es also "wahrscheinlich" keine sinnvolle Arbeit.

Wie könnte er darauf gekommen sein?

Wie ich schon eingangs anhand von Zahlen konkret nachgewiesen habe: Die Nachfrage nach Arbeitskraft, ausgedrückt im Arbeitsvolumen, ist erheblich gesunken.

Woran liegt das?

Das Kapital insgesamt, seine Regierung, seine Ökonomen und seine Medien machen zu hohe Löhne und Sozialabgaben dafür verantwortlich.

In Wahrheit jedoch ist die Ursache, daß das Kapital für seine Verwertung immer weniger Arbeitskraft benötigt. Dank steigender Produktivität.

Götz Werner, Inhaber von dm, der zweitgrößten Drogeriemarktkette Deutschlands, auf die Frage:
"Wie wichtig ist ihnen die Schaffung neuer Arbeitsplätze?"
"Überhaupt nicht wichtig. Sonst wäre ich ja ein schlechter Unternehmer. (...) Die Wirtschaft hat nicht die Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen. Im Gegenteil. Die Aufgabe der Wirtschaft ist es, die Menschen von der Arbeit zu befreien. Und das ist uns in den letzten 50 Jahren ja auch grandios gelungen. (...) Kein Unternehmer fragt sich morgens, wenn er in den Laden kommt: Wie kann ich heute möglichst viele Menschen beschäftigen? Allein die Vorstellung ist schon absurd. Die Frage lautet umgekehrt: Wie kann ich mit einem möglichst geringen Aufwand an Zeit und Ressourcen möglichst viel (...) erreichen. (...) Arbeit einzusparen. Das ist ein absolutes unternehmerisches Prinzip." (Stuttgarter Zeitung vom 02.07.2005)

Der Mann ist wenigsten ehrlich. Tatsächlich ist das sinkende Arbeitsvolumen ein grandioser Fortschritt, die objektive Grundlage für die Verbesserung der Lebensverhältnisse, für Arbeitszeitverkürzung und bessere Bedürfnisbefriedigung.

Doch unter den Bedingungen von Kapitalverwertung und Lohnarbeit führt die steigende Produktivität dazu, daß die Nachfrage nach Ware Arbeitskraft, nach Lohnarbeit ab- und die Arbeitslosigkeit zunimmt. Der Widerspruch zwischen dem kreativen Potential menschlicher Produktivkräfte und seiner beschränkten Nutzung durch das Kapital wächst mit steigender Produktivität. Und zwar weltweit.

Das muß unser Thema sein, nicht die Lohnhöhe.

Das Kapital kann nicht mithalten

14 bis 15 Millionen Menschen sollen in Deutschland nicht in der Lage sein mitzuhalten? Das stellt die Verhältnisse völlig auf den Kopf.

Es ist das Kapital, das immer weniger mithalten kann mit dem ungeheuren Potential, das in Millionen Menschen steckt. Nur vom Standpunkt der Käufer der Ware Arbeitskraft aus gesehen, erscheinen diejenigen, die man für seine Profitzwecke nicht benötigt, als Menschen, die nicht mithalten können.

Diejenigen, die in der Konkurrenz um die zurückgehende Zahl von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen unterliegen, erscheinen als Faulenzer, weil das Kapital mit ihrem Fleiß wenig anfangen kann.

Keine sinnvolle Arbeit? Die gäbe es genug, aber die Arbeitsplätze müssen in der Regel für Privatinteressen rentabel sein.

Ein Zitat: "Deutschland braucht Unternehmer, denen die Beschäftigung genauso wichtig ist wie der Gewinn."
Von wem ist das wohl? Von Papst Benedikt XVI?
Nein, es stammt vom Vorsitzenden der IG Metall Jürgen Peters.

Was tun mit den Überflüssigen - bedingungsloses Grundeinkommen?

Prof. Dr. Thomas Straubhaar bietet folgende Lösung an.
"Wir müssen (...) überlegen, wie wir einen sozialen Fußboden einziehen, der klare und verbindliche Grundlagen schafft. Das müssen wir, weil wir kein Interesse daran haben können, dass sich das untere Drittel der Gesellschaft mit den restlichen zwei Dritteln in die Haare gerät. Der Fußboden heißt übrigens staatliches Grundeinkommen. Es dient dazu, daß der Gutverdienende und Kapitalist in Ruhe seine Arbeit machen kann." Das ist aus dem vorhin genannten Interview.

Das Kapital fürchtet sich.

Das Drittel, das für die Kapitalverwertung kaum mehr benötigt wird, muß befriedet werden. Es könnte sonst zu unruhig werden. Es ist also nicht die Solidarität mit Erwerbslosen, die Prof. Dr. Straubhaar umtreibt, sondern die Solidarität mit dem Kapital.

Das wird besonders an seinen weiteren Ausführungen deutlich:

"Sie (die staatliche Grundsicherung, d.V.) darf an keine Bedingung geknüpft sein. Alle 80 Millionen Bundesbürger sollen sie bekommen. (...) Wir müssen dann aber auch akzeptieren, daß es extrem niedrige Löhne geben kann." (Aus einem anderen Interview, Berliner Zeitung, 17. März 2006)

Wieso? Weil dann Löhne durch das Grundeinkommen ersetzt werden können. Wenn die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft durch Steuermittel gedeckt sind, müssen sie von Unternehmen nicht mehr über Löhne gedeckt werden. Das Grundeinkommen, wenn es bedingungslos ist, bedeutet die Einführung eines flächendeckenden Kombilohns. Axel Börsch-Supan faßte die Ergebnisse einer Studie des Wirtschaftsministeriums zusammen: "Wenn Arbeitnehmer in Deutschland die gleiche Tätigkeit verrichten wie in Rumänien, China oder den USA, können sie keine bessere Bezahlung erwarten ." (FR, 21. April 2006) Da aber die Lebenshaltungskosten und Bedürfnisstrukturen in Deutschland höher sind, müßten die "extrem niedrigen Löhne" durch Lohnsubventionen aufgestockt werden, also flächendeckendes ALG II. Ein Modell dafür ist das bedingungslose Grundeinkommen - BGE.

Weiter sagt Prof. Dr. Straubhaar: "In meinem Modell würde ich völlig abschaffen alles, was heute mit dem Etikett soziale Sicherungssysteme bezeichnet wird. Die brauchen wir ja dann nicht mehr, weil wir dieses Grundeinkommen haben, ..." (Berliner Zeitung, 17. März 2006)

Je höher das (steuerfinanzierte) Grundeinkommen ist, desto mehr können Löhne und Beiträge zur Sozialversicherung gesenkt werden. Denn der Druck aufs Tarifsystem steigt entsprechend.

Es ist völlig klar, daß das bedingungslose Grundeinkommen das gegenwärtige Tarifsystem völlig aushebelt und auf individuelle Lohnverhandlungen zurückführen würde. Damit würden auch die Gewerkschaften noch mehr geschwächt, als sie sich ohnehin schon selbst schwächen. Die Sozialversicherung würde ebenfalls ausgehebelt.

Die linken Vertreter des BGE nehmen diese Wirkung in bezug auf das Lohnniveau in Kauf, weil sie ausschließlich an ihr eigenes Interesse denken, weil sie als Erwerbslose oder VertreterInnen von Erwerbslosen mit der bedingungslosen Zahlung von 850 Euro pro Person plus voller Miete schon völlig zufrieden wären.

Das ist ziemlich kurzsichtig und untergräbt das notwendige Bündnis zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen.

Auch wenn einzelne Vertreter des Kapitals das BGE fordern, ist es trotzdem illusionär. Denn das Kapital muß sich über die Aneignung unbezahlter Arbeit vermehren, steht also unter Verwertungszwang. Es kann daher den LohnarbeiterInnen nicht freistellen, ob sie zu seiner Vermehrung durch ihre Arbeit beitragen möchten oder nicht. Deshalb auch das massive Interesse, die Lage der Arbeitslosen möglichst zu verschlechtern. Freiwilligkeit der Arbeit und Lohnarbeit schließen sich weitgehend aus. Freiwilligkeit wird letztlich nur möglich sein, wenn alle für sich arbeiten, nicht für die Bereicherung anderer.

Hartz IV hat den Zweck, das Leistungsniveau zu senken und Sanktionen auszubauen, um Lohnabbau zu fördern.

Das Kapital setzte sich bei der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und den verschärften Zumutbarkeitsbestimmungen durch. Es konnte aber sein Ziel, die Regelsätze zu senken, nur teilweise erreichen.

Arbeitgeberverbände, Industrie- und Handelskammern, die tonangebenden Ökonomen, aber auch Merkels CDU usw. treten für die Senkung der Regelsätze des ALG II um 25 bis 30 Prozent ein, also die Senkung der Unterstützung für Langzeitarbeitslose. Einige wie beispielsweise die Bertelsmann-Stiftung setzen sich schon für die völlige Streichung des Regelsatzes ein.

SPD und CDU sind diesem Druck gefolgt. Indirekte, d.h. sozialdemokratische Methoden der Regelsatzsenkung herrschten dabei vor.

Aus Furcht vor der Empörung der Lohnabhängigen.

Vorerst war es nur die indirekte Senkung des Eckregelsatzes.

Der Eckregelsatz hätte 382 Euro betragen müssen, wenn eine Reihe von Bedarfspositionen der unteren Verbrauchergruppen der EVS wie vorher auch zu 100 Prozent anerkannt worden wären, z.B. Telefonkosten, Strom usw..

Das zeigt sich auch darin, daß

  • die Weihnachtsbeihilfe (6,17 Euro mtl.) ersatzlos gestrichen wurde,
  • die Kontogebühren nur mit 36 Cent mtl. im Regelsatz drin sind, obwohl ein Konto vorausgesetzt wird.
  • Notwendige Gesundheitskosten aus dem Regelsatz vorfinanziert werden sollen bzw. nicht anerkannt werden.
  • Bewerbungskosten vorfinanziert werden müssen. Wer sich bewirbt, wird bestraft. Dieser verrückte Mechanismus verwirklicht das offizielle Dogma, daß die Arbeitsmotivation steigt, je niedriger der Regelsatz ist.
  • Kosten für Bildung bzw. Weiterbildung nicht im Regelsatz drin sind.
  • Kosten für Verhütungsmittel ebenfalls nicht. Frauen über 20 Jahre, die verhüten, haben einen um 10-15 Euro geringeren Regelsatz als Männer. Wahrscheinlich ein Anreiz, die Geburtenrate zu steigern.
  • Die Kosten für Strom und Gas sind in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Der im Regelsatz enthaltene Anteil dagegen ist gesenkt worden.
  • In vielen Kommunen wird die Angemessenheit der Unterkunftskosten so niedrig festgesetzt, daß die nicht anerkannten Beträge aus dem Regelsatz bezahlt werden müssen.
  • Eigenheim- bzw. Eigentumswohnungsbesitzer müssen Tilgungsbeiträge aus ihrem Regelsatz zahlen, da sie nicht als Unterkunftskosten anerkannt werden.
  • Das gleiche kann mit Reparaturen usw. passieren.

Obwohl der Regelsatz real deutlich gesenkt wurde, müssen jetzt Anschaffungen für Möbel, Haushaltsgeräte und Hausrat und deren Reparaturen aus ihm bezahlt werden.

SPD und CDU (Müntefering und Merkel) gestehen Erwerbslosen so wenig Geld zu, daß in der Regel noch mehr Monat am Ende des Geldes übrig ist als vorher. Sie erwarten aber gewaltige Ansparungen bei Gesundheits- und Bewerbungskosten, bei Kleidung und bei Möbeln.

Die Notwendigkeit für weiteren Sozialabbau wird unter anderem begründet mit angeblichem Mißbrauch des SGB II durch Jugendliche. Die Ursache für die gestiegene Jugendarbeitslosigkeit ist nicht der Mißbrauch von Leistungen. Wenn das Kapital insgesamt weniger Vollzeitkräfte benötigt, benötigt es auch weniger Ersatzkräfte. Angesichts einer hohen Arbeitslosigkeit ist es zudem einfach billiger, ausgebildete Arbeitskräfte einzukaufen als selber auszubilden. Jugendliche stehen deshalb mehr und mehr vor der Tür. Man benötigt nicht mehr so viele. Sie werden zu geringeren Kosten abgeschrieben und/oder als Lohndrücker benutzt. Das ist der wirkliche Zweck der Kürzungen bei Jugendlichen.

2005 bekamen nach Angaben des DGB nur 48,7 Prozent der jugendlichen BewerberInnen eine Ausbildungsstelle. Der Rest besuchte Schulen, Berufsvorbereitende Maßnahmen, verschwand in BW, ZDL oder FSJ oder nahm Arbeit an. 5,4 Prozent wurden als nicht vermittelt gezählt. Aber 46 Prozent parkten irgendwo anders.

Als Bewerber werden aber nur die gezählt, die sich bei der AA als lehrstellensuchend melden. Das sind nur rund 80 Prozent der Bewerber. Man wird nur ein Jahr lang als Bewerber gerechnet. "Altbewerber" werden nicht als Bewerber gezählt. Als ausbildungssuchend gilt auch nur der, der als ausbildungsfähig eingestuft wird. Das sind die 400.000 Jugendlichen in Berufsvorbereitenden Maßnahmen nicht.

Das Problem wird auf raffinierte Weise statistisch schön geredet, besteht aber dennoch.

Es gilt also die Kosten für die Jugendlichen zu senken, die man nicht mehr benötigt. Andererseits dient die Regelsatzsenkung dazu, die Bereitschaft zu erhöhen, für niedrigere Ausbildungsvergütungen bzw. niedrigere Löhne zu arbeiten. Der Präsident des DIHK hat gefordert, die Ausbildungsvergütungen um ein Drittel zu senken, damit mehr Ausbildungsstellen angeboten werden. Völlig zu einem Sektor gesellschaftlicher Zwangsarbeit hat sich das Praktikumsunwesen entwickelt. Jugendliche und auch Studierende werden vermehrt gezwungen - selbstverständlich gratis - hier ein Praktikum und dort ein Praktikum abzuleisten. Sie werden damit entgegen ihren eigenen Interessen zum Lohndumping mißbraucht.

Nun zum Thema gesetzlicher Mindestlohn

Erfreulicherweise ist die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in jüngster Zeit zu einem öffentlichen Thema geworden. Er ist durch die objektive Situation auf die Tagesordnung gesetzt worden, weil immer mehr arbeitende Menschen verarmen, aber auch aufgrund des Druck aus Gewerkschaften und sozialer Bewegung.

Beim Mindestlohn gibt es immerhin eine Kampagne von ver.di, in der LohnarbeiterInnen zu Wort kommen, die Armutslöhne beziehen. Im Bundestag sind Abgeordnete der Linkspartei vertreten, die sich für einen gesetzlichen Mindestlohn einsetzen.

Doch auf die Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn müssen sich mehr Kräfte konzentrieren.

Aber: Die Forderung von ver.di nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro ist inakzeptabel.
Bei einer 38,5 Stundenwoche ergibt sich ein Monatslohn von 1.250 Euro. Das bedeutet für einen Alleinstehenden 911 Euro netto - bei einem Krankenversicherungsbeitrag von 13,8 Prozent.

Dieser Nettolohn würde im Durchschnitt bei Alleinstehenden einen ALG-II-Anspruch auslösen. Das durchschnittliche ALG-II-Niveau eines Alleinstehenden liegt bei 650 Euro. (345 Euro plus 305 Euro Warmmiete). Bei einem Bruttolohn von 1.250 Euro wäre der pauschalierte Freibetrag 280 Euro. Wenn die Werbungskosten 100 Euro übersteigen, entsprechend mehr.

Der ALG-II-Bedarf läge also bei 650 plus 280, d.h. bei 930 Euro. Ver.di fordert faktisch einen Kombilohn als Mindestlohn. Der Mindestlohn muß über dem durchschnittlichen ALG-II-Niveau liegen, nicht darunter.

Es muß zudem gefordert werden, daß für Erwerbslose jede Arbeit unzumutbar ist, mit der man nicht unabhängig von ALG II leben kann. Alles andere würde bedeuten, für die Ausdehnung von Kombilöhnen einzutreten.

Der Mindestlohn muß aber auch über der Pfändungsfreigrenze von 990 Euro liegen. Es wäre ein schlechter Witz, wenn ein Mindestlohn unter der Grenze liegt, unter der nicht mal gepfändet werden darf, wie es ver.di vorsieht.

Bei einer 38,5 Stundenwoche liegen alle Stundenlöhne unter 8,60 Euro oder unter 1.450 Euro brutto im Monat unterhalb der Pfändungsfreigrenze. Das trifft auch auf die 8 Euro brutto zu, die von der Linkspartei/WASG gefordert werden.

Der Frankfurter Appell tritt für mindestens zehn Euro brutto ein. Das entspricht der Forderung von ver.di aus dem Jahr 2000, fortgeschrieben mit der Inflationsrate. Ver.di hat im Jahr 2000 noch 3000 DM brutto gefordert. Das waren 1.534 EUR brutto. Seither sind 5 Jahre vergangen. Hochgerechnet mit 8 Prozent Inflationsrate, kommen wir auf heute 1.656 EUR oder eben zehn EUR brutto bei einer 38,5 Stundenwoche. Die Gewerkschaft NGG hält an einem auf 1.500 Euro brutto umgerechneten und abgerundeten Mindestlohn fest. Während bei Tariflohnforderungen üblicherweise wenigstens ein Inflationsausgleich gefordert wird plus der Beteiligung am Produktivitätszuwachs, scheint das für NGG beim gesetzlichen Mindestlohn nicht zu gelten. Im Baugewerbe jedenfalls gilt ein Mindestlohn von zehn Euro brutto für ungelernte Kräfte. Warum soll es anderswo anders sein?

Ver.di hat die eigene Mindestlohnforderung seit 2000 um 25 Prozent auf 1.250 Euro brutto gekürzt. Die Linkspartei/WASG hat mit ihren 8 Euro brutto die alte Forderung um 20 Prozent auf 1.336 Euro gekürzt.

Die Mindestlohnforderung dermaßen abzusenken, steht in einem krassen Mißverhältniss dazu, daß man sich so massiv über die zu niedrige Binnennachfrage beklagt. Die ver.di-Führung, die ihre eigene Mindestlohnforderung so zusammengestrichen hat, nimmt das offensichtlich selber gar nicht so ernst. Das Argument mit der Binnennachfrage scheint mehr dem irrationalen Dogma vom immerwährenden Wirtschaftswachstum geschuldet zu sein.

Es gibt für sie stärkere Beweggründe als die Binnennachfrage. Maßstab ist eher die internationale Konkurrenzfähigkeit. Da wird die nationalistische Komponente deutscher Gewerkschaftspolitik deutlich. Denn 7,50 Euro ist ein Wettbewerbsvorteil gegenüber Frankreich und Großbritannien, die beide höhere Mindestlöhne aufweisen.

7,50 Euro sind ein Zugeständnis an das Kapital und ein Zugeständnis auch an die SPD, um diese Hartz-IV-Partei zu gewinnen. Bekanntlich sind aber gewerkschaftliche Lohnforderungen noch nie eins zu eins umgesetzt worden. Wer 7,50 Euro verlangt, kann möglicherweise mit sechs Euro abgespeist werden - wenn das Kapital und seine Parteien einen gesetzlichen Mindestlohn nicht mehr verhindern können.

Wer an den früheren Forderungen von ver.di, NGG und IG BAU festhalten will, der muß heute für zehn Euro brutto eintreten.

Diejenigen, die den Frankfurter Appell noch verteidigen, sollten eine möglichst starke Kampagne für zehn Euro starten. Das wäre besser als darüber zu debattieren, ob man dafür oder dagegen ist, sich Kapitalverwertung mit oder ohne freiwillig statt gezwungenermaßen abgeleistete Lohnarbeit vorzustellen oder nicht.

Aber wohlgemerkt: In diesen zehn Euro ist kein Betrag für die Unterhaltungskosten auch nur eines einzigen Kindes enthalten, also des Ersatzes der Arbeitskräfte.

Ein solcher Lohn erkennt nicht einmal an, daß Menschen sich als biologische Lebewesen fortpflanzen müssen wie andere Tierarten auch. Vom Kindergeld allein kann ein Kind auch nicht leben.

Dennoch erscheinen zehn Euro als hoch, weil jeder sechste Vollzeitbeschäftigte in Westdeutschland mit seinem Lohn darunter liegt.

Schon Adam Smith wußte: "Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muß mindestens so hoch sein, daß er davon existieren kann. Meistens muß er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen; seine Schicht würde dann mit der ersten Generation aussterben." (aus dem Buch 'The wealth of nations' zu deutsch: 'Der Wohlstand der Nationen', London 1776, dt. Ausgabe München 1993. Adam Smith war kein Sozialist. Er war einer der Begründer der Nationalökonomie.)

Wie kann man angesichts dieser Umstände schon eine Forderung von weniger als zehn Euro brutto als Verwirklichung eines menschenwürdigen Lohns bzw. als Schritt zur sozialen Gerechtigkeit hinstellen? Auch zehn Euro haben mit Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun, denn nach wie vor, würde sich das Kapital an unbezahlter Arbeit bereichern, nur eben etwas weniger.

Zehn Euro sind ein nur schwer zu vertretender Kompromiß, der ausschließlich der gegenwärtigen Schwäche der Arbeiterbewegung und der erdrückenden Partnerschaft der Gewerkschaftsführungen mit dem Kapital geschuldet ist.

Wenn man sich aber mit dem Frankfurter Appell auf mindestens zehn Euro geeinigt hat, darf die Forderung nach einem höheren Mindesteinkommen für Erwerbslose diese Mindestlohnforderung nicht übersteigen. Der Runde Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisation akzeptiert zehn Euro Mindestlohn und fordert gleichzeitig 850 Euro plus Miete für Erwerbslose. Das ergibt etwa 1.200 Euro netto. Er fordert damit, daß das Grundeinkommen für Erwerbslose höher sein soll als der gesetzliche Mindestlohn.

Denn 10 Euro brutto die Stunde machen nur etwa 1.100 Euro netto aus. Wenn man ein Bündnis zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen anstrebt, muß ein Grundeinkommen für Erwerbslose auf derselben Höhe oder darunter liegen.

Ein Grundeinkommen für Erwerbslose von rund 1.200 Euro netto würde einem Bruttolohn von 1.900 Euro entsprechen oder 11,40 Euro Stundenlohn bei einer 38,5 Stundenwoche.

Daß die Bundesregierung die Pläne des Kapitals nur zögernd umsetzt und sogar über gesetzliche Mindestlöhne redet, ist in erster Linie Ergebnis des Widerstands, den es gibt beziehungsweise der erwartet wird, wenn die Pläne umstandslos umgesetzt würden. Die LohnarbeiterInnen, seien sie beschäftigt oder arbeitslos, sollten ihre Kraft nicht unterschätzen. Wie das Beispiel Frankreich zeigt, ist es möglich, ein ganzes Gesetz zu Fall zu bringen, wenn Millionen energisch auf die Straße gehen.

Jetzt noch zum Thema: "Wettbewerbsfähigkeit stärken"

Wenn Forderungen wie die nach einem gesetzlichen Mindestlohn von mindestens zehn Euro und die Erhöhung des Eckregelsatzes etwa auf 750 Euro aufgestellt werden, tönt einem der Chor des Kapitals entgegen, das würde die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwächen.

Und das stimmt auch.

Es ist allerdings fatal, daß die Gewerkschaftsführung diesem Argument nichts entgegenzusetzen hat, sondern es im Gegenteil auch noch nachbetet.

Bezogen auf ein Land als Standort bedeutet Wettbewerbsfähigkeit:
"Die Rentabilität des eingesetzten Kapitals bestimmt (...) maßgeblich (...) die Standortqualität eines Landes." (Deutsche Bundesbank)

Stärkung oder Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit bedeutet also in erster Linie Steigerung oder Senkung der Rendite.

Wenn selbst bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro brutto hunderttausende Arbeitskräfte mehr Löhne bekommen, sinkt die Rendite. Wenn der Druck auf Lohnsenkungen über die Erhöhung des Regelsatzes abgemildert wird, steht das ebenfalls der Steigerung der Renditen entgegen. Und wenn die staatlichen Ausgaben für Erwerbslose steigen, wird es schwieriger, die Gewinnsteuern im geplanten Ausmaß zu senken, um so staatlicherseits weiter bei der Erhöhung der Nettorenditen zu helfen.

Wie hoch muß die Rendite sein, damit Wettbewerbsfähigkeit besteht? Das weiß niemand genau.

Die Wettbewerbsfähigkeit ist auf jeden Fall immer dann nicht ausreichend, wenn die Renditen unterdurchschnittlich sind.

Da aber niemand einen Überblick über die Renditen insgesamt hat, weil sie auf Privateigentümer entfallen, orientiert man sich zunächst an der Konkurrenz. Wenn Porsche 13 Prozent Rendite hat und DaimlerChrysler nur 4 Prozent, gilt DaimlerChrysler als nicht wettbewerbsfähig. Wenn aber Toyota noch höhere Renditen aufweist, ebenfalls nicht.

Das Kapital will zumindest eine durchschnittliche Rendite erreichen.

Unterdurchschnittlich bedeutet eigentlich schon "unrentabel". "Das führt immer wieder zu der schwierigen Lage, daß Mitarbeiter auch bei ordentlicher Gewinnsituation von Unternehmen bei Umstrukturierungen entlassen werden ." (BDI-Präsident Thumann, FTD, 4. April 2005) Eben deswegen, weil die Rendite im Verhältnis zur Renditen von Konkurrenten zu niedrig ist.

Letztlich kann das Kapital aber mit keinem Stand der Wettbewerbsfähigkeit, d.h. mit keiner Rendite zufrieden sein. Kapital strebt nach einer möglichst überdurchschnittlichen Rendite. Wer die höchste Rendite weltweit hat, der hat seine Fähigkeit zum Wettbewerb am besten unter Beweis gestellt. Die Wettbewerbsfähigkeit wäre aber selbst dann zweifellos noch höher, wenn der Abstand der Rendite zur Konkurrenz noch größer würde.

Das Bedürfnis des Kapitals nach Profit ist unstillbar. Die Konkurrenz der Kapitalien untereinander erzwingt das.

Peter Hartz, der Verflossene, immer noch IG Metall-Mitglied: "Wettbewerb heißt heute, auf einem Teppich laufen, der unter einem fortgezogen wird, um gleichzeitig bewegliche Ziele zu treffen. Das Gefühl der Sicherheit kennt nur noch derjenige, der schneller läuft, als der Boden entgleitet ." (Hartz, Jobrevolution, Frankfurt 2001, S. 121)

LohnarbeiterInnen haben zunächst einmal kein Interesse daran, daß die Profitrate z.B. von 10 Prozent auf 15 Prozent steigt und sie zu diesem Zweck mit Lohnsenkungen oder mit Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich einverstanden sind.

Andererseits ist aber der Begriff Interesse zwiespältig. Denn als Verkäufer der Ware Arbeitskraft haben LohnarbeiterInnen ein gewisses Interesse daran, daß ihre Ware gekauft wird, daß es also den Käufern der Ware so gut geht, daß sie ihre Arbeitskraft kaufen. Sie sind deshalb auch zu Zugeständnissen bereit, um ihre Arbeitskraft weiter verkaufen zu können, wenn sie sich dadurch immer noch besser stellen, als wenn sie sie nicht verkaufen können.

Wenn sie ihr Interesse verfolgen, einigermaßen anständig zu leben, müssen sie Forderungen aufstellen und Kämpfe dafür organisieren. Alle Versuche der LohnarbeiterInnen, die Verschlechterung ihrer Lage aufzuhalten oder abzumildern, senken jedoch, wenn sie erfolgreich sind, die Profitraten.

Wenn aber die Kapitalverwertung schwieriger wird, provoziert das als Antwort stärkere Produktivitätssteigerungen, Entlassungen, Produktionsverlagerungen, also neue Versuche, die Renditen wieder anzuheben, in dem aus weniger Arbeitskräften mehr herausgeholt wird.

Wenn LohnarbeiterInnen dagegen das Ziel der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, d.h. der Renditen akzeptieren, unterwerfen sie sich dem Heißhunger des Kapitals nach Profit und verlieren jede Selbständigkeit. Denn Zugeständnisse bei Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkungen regen das Kapital nur dazu an, je nach Lage weitere Zugeständnisse zu verlangen. Wenn die deutsche Gewerkschaftsführung diese Politik der Zugeständnisse nun mehr als 15 Jahre erfolglos praktizierte, dann allerdings nicht allein, weil sie diese - letztlich nationalistische - Argumentation mit der Wettbewerbsfähigkeit übernahm, sondern auch, weil sie sich mit Hinweis auf des Arbeitslosenheer und dem propagandistischen Vorwurf der "Besitzstandswahrung" in die Defensive drängen ließ.

Wenn die LohnarbeiterInnen die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals stärken, machen sie sich auf Dauer selbst immer mehr überflüssig und tragen noch eher dazu bei, ihr Lohnniveau unter die Reproduktionskosten zu senken, als wenn sie sich wehren und Zugeständnisse erkämpfen würden.

Auf dem Boden der Kapitalverwertung, der Lohnarbeit, der Produktion für den nationalen Markt oder den Weltmarkt gibt es deshalb auf Dauer keine befriedigende Perspektive für die arbeitenden Menschen. Die dargestellte Zwickmühle ist auf diesem Boden nicht auflösbar.

Sie stellt auf Dauer das gesamte System der Kapitalverwertung und der Lohnarbeit in Frage. Das muß ebenfalls mehr zum Thema gemacht werden. Nur auf dieser Basis läßt sich die Perspektive einer nicht-kapitalistischen, sozialen Gesellschaft erarbeiten, die sich deutlich vom pseudo-sozialistischen Gesellschaftsmodell des untergegangenen Ostblocks unterscheiden muß.

Der Heißhunger des Kapitals nach Rendite ist für viele LohnarbeiterInnen unverständlich, weil sie selbst eben mit einem gewissen Auskommen und sicheren Arbeitsplätzen schon zufrieden wären. Viele appellieren deshalb an das Kapital, sich doch mit einem Gewinn als solchem zufrieden zu geben. Sie hoffen darüber so etwas wie "Gerechtigkeit" und eine "soziale Balance" in das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital einzubauen. Diese Hoffnung hatte noch in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts einen gewissen Bezug zur Realität. Heute ist diese Hoffnung ganz offensichtlich illusionär. Je schwächer sie wird, desto besser.

Wenn aber diejenigen, die das Kapital mit ihrer Arbeit erst vermehren, in wachsendem Maße unter seiner Regie nicht mehr leben können, werden sich nicht damit abfinden. Sie werden nicht endlose Jahre ertragen, daß ihre Existenzbedingungen bei wachsendem gesellschaftlichen Reichtum trotz aller Abwehrkämpfe immer schlechter und unsicherer werden.

Können ihre berechtigten Forderungen heute oder morgen nicht durchgesetzt werden, zeigt es nicht, daß sie unrealistisch waren, sondern daß befriedigende Lebensverhältnisse trotz steigenden Reichtums und riesiger Produktivität unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich sind.

 

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